Samstag, 12. Dezember 2009

Die unselige Brücke zwischen Keynes und der Neoklassik

Keynesianer brüten seit Jahrzehnten über der Frage, wieso sich Keynes mit seiner vielgerühmten "General Theory" der Neoklassik annäherte. Immerhin war es sein expliziter Wunsch, die walrasianische Gleichgewichtsanalyse, die weder mit Geld noch Zeit umzugehen weiss, zu verlassen. Es ist die bittere Ironie des Schicksals, dass Keynes Theorie heute vollständig in die neoklassische Analyse integriert worden ist; somit wurden sämtliche originelle und revolutionäre Einsichten Keynes von der Neoklassik verdrängt. Das Resultat ist, dass ökonomische Modelle heute noch immer weder Geld noch Zeit integrieren.

In diesem Artikel will ich kurz erläutern, wo Keynes monetäre Analyse meiner Meinung nach in die schiefe Bahn geriet. Für den interessierten Leser wird auf weiterführende Literatur von Alvaro Cencini verwiesen.

Keynes Theorie der General Theory ist, denke ich, sehr verdichtet in Paul Krugmans Metapher der Babysitter-Gemeinschaft ausgedrückt. In dieser Babysitter-Gemeinschaft wurden in einer Nachbarschaft von der "Zentralbehörde" Coupons an junge Eltern verteilt. Wer für einen Abend einen Babysitter braucht, kann mit einem Coupons bezahlen. Das andere Pärchen bekam dafür einen Coupon, den es selbst wieder ausgeben konnte. Somit ist auf kluge Weise gewährleistet, dass langfristig jedes Pärchen gleichviel babysittet, wie es selbst Babysitting-Dienstleistungen bezieht.

Das Problem war nun, dass die Pärchen die Coupons in gewissen Zeiten horteten, um an einem späteren, ungewissen Zeitpunkt genügend Punkte zu haben. Es gab also keine genügende Nachfrage nach Babysittern - statt dessen horteten die Pärchen die Coupons, was wiederum die Unsicherheit bei anderen Pärchen erhöhte, selbst keine Coupons zu bekommen. Ein Teufelskreis also. Schliesslich konnte das Problem nur gelöst werden, indem neue Coupons gedruckt wurden - der konstante Strom neuer Coupons von der "Zentralbehörde" führte dazu, dass die Babysitter-Gemeinschaft beruhigt Coupons ausgeben konnte - der Kreislauf kam wieder in Schwung.

In die reale Welt umgesetzt sind die Coupons natürlich Geld, und das Zurückhalten der Coupons repräsentiert das Horten von Geld, wodurch die effektive Nachfrage abnimmt und Arbeitslosigkeit entsteht.

Das ist also, in der verdichtetsten Ausdrucksweise, die Kernaussage der General Theory. Aus diesem Grund gilt - laut Keynes und seinen Anhängern - Say's Gesetz nicht; ein Angebot führt nicht zu seiner eigenen Nachfrage, wenn das Zahlungsmittel als Wertaufbewahrungsmittel gehortet wird.

Anhand dieser Metapher können wir verstehen, wieso Keynes in der General Theory eigentlich neoklassisch argumentiert. In Keynes' Auffassung in der General Theory ist Geld ein Gut (an asset), wie Gold- oder Silbermünzen, dass von einer Obrigkeit (Zentralbank) in den Wirtschaftskreislauf "gepumpt" werden kann. Wäre Geld tatsächlich ein Gut, wie die Neoklassiker (und Keynes in der GT) denken, dann hätte Keynes tatsächlich recht. Wäre Geld eine Goldmünze oder ein Coupons, der von einer Zentralbehörde exogen gesteuert werden könnte, dann würde das Horten von Goldmünzen zu ungebrauchten Ressourcen führen. Erst, wenn der Goldbesitzer sein gehortetes Gold ausgeben würde, könnte jemand wieder arbeiten. In der Metapher mit der Babysitter-Gemeinschaft repräsentiert das Geld auch eine Art von Gut: der Coupons ist ein Versprechen auf eine zu erbringende Dienstleistung. Wie in der Krugman-Metapher mit den Coupons kann in der General Theory die Zentralbank die Geldmenge exogen erhöhen. Also: Coupons in den Umlauf pumpen.

Geld ist aber weder ein Gut, noch kann die Nationalbank Geld ins System "pumpen". Wie jedermann sofort zugeben muss, schenkt die Nationalbank keiner Geschäftsbank und keiner Firma je Geld. Die Nationalbank kann Kredite an Banken vergeben, die die Geschäftsbanken aber zurückbezahlen müssen. Somit ist es ausgeschlossen, dass die Nationalbank die Geldmenge exogen erhöhen kann. Wenn Geld also kein Gut ist, wie Keynes in der GT sagt* und die Neoklassiker denken, was ist es denn?

Geld entsteht endogen durch die Kreditvergabe von Geschäftsbanken. Ende Monat bekommt ein Arbeiter den Lohn - d.h., die Bank gibt der Unternehmung einen Kredit, damit sie dem Arbeiter sein Einkommen überweisen kann. Das Einkommen des Arbeiters entsteht in dieser Transaktion simultan mit der Schuld der Unternehmung gegenüber der Bank. Aus der Sicht der Bank ensteht in diesem Prozess ein Aktiv-Depot (die Schuld der Unternehmung gegenüber der Bank) und ein Passiv-Depot (die Schuld der Bank an den Lohnbezüger) simultan. Geld ist also eine buchalterische Aktiv-Passiv-Kreatur. Geld ist gleichzeitig ein Aktivum und ein Passivum, ein positives Depot und ein negatives Depot. Geld entsteht und zerstört sich wieder innerhalb dieser Transaktion - Geld ist deshalb selbst ein Fluss, der die Schöpfung eines positiven Depots und eines negativen Depots gleichzeitig zur Folge hat. Deshalb eine Aktiv-Passiv-Kreatur.

Nach der Transaktion hat der Lohnbezüger ein Ausübungsrecht über ein Depots auf der Passivseite der Bankbilanz. Das Depots gibt dem Arbeiter die Kaufkraft über das vom Arbeiter selbst produzierte Produkt, das nun im Besitz der Unternehmung ist. Das Unternehmen hingegen schuldet der Bank denselben Betrag, der die Bank dem Lohnbezüger schuldet.

Aus dieser kurzen Skizze der Natur des Geldes wird eines ersichtlich: Geld kann nicht gehortet werden. Geld ist ein Fluss, der zur Schöpfung eines positiven und negativen Depots gleichermassen führt. Sobald der Fluss vollzogen ist - dies dauert nur einen Augenblick - ist der Fluss "Geld" wieder verschwunden. Streng genommen ist die Geldmenge deshalb in jedem Zeitpunkt der Geschichte gleich null, während die aggregierte Zahl auf der Passivseite der Bankbilanzen der numerische Ausdruck der auf dem Produktemarkt angebotenen Güter und Dienstleistungen darstellt.

Wenn sich ein Lohnbezüger entscheidet, sein Einkommen (ein Passivkonto der Bank) nicht auszugeben, führt das zwar zu einem Abfallen der Nachfrage nach Gütern auf dem Produktemarkt. Jedoch wissen wir nun, dass das Passivkonto der Bank notwendigerweise einen "alter Ego" besitzt: das Aktivkonto der Bank. Diese zwei Depots - beide repräsentiert durch eine Zahl - stellen eine Identität dar. Es sind die zwei Seiten derselben Münze, wie die Venus für die einen der Morgenstern, die anderen der Abendstern ist. Solange die Bank also den Kredit an die Unternehmung aufrecht erhält, existiert eine Nachfrage nach dem gelagerten Gut auf dem Finanzmarkt. Die Kosten der Unternehmung sind deshalb durch die finanzielle Nachfrage der Bank gedeckt.

Das Horten von Geld ist in einer modernen Geldwirtschaft also nicht möglich. Wenn Arbeiter weniger Einkommen ausgeben, senkt sich die Nachfrage auf dem Produktemarkt. Diese Nachfragesenkung wird jedoch kompensiert durch die finanzielle Nachfrage nach den Gütern durch Banken. Solange die Bank bereit ist, den Kredit an die Unternehmung zu verlängern, kann die Unternehmung die Kosten der Produktion deshalb decken.

Wäre Geld tatsächlich ein Gut, würden die neoklassischen Modelle mit einigen Einschränkungen (rational behaviour/expectations etc.) recht gut stimmen. Geld ist jedoch kein Gut, sondern ein buchhalterisches Geschöpf, das zur gleichzeitigen Schöpfung eines positiven und eines negativen Depots in der Bankbilanz führt. Auf dieser Erkenntnis - sie ist bis heute logisch unangefochten, jedoch nur wenigen Ökonomieprofessoren bekannt - sollte eine moderne makroökonomische Theorie fussen.

*Es sei hier darauf hingewiesen, dass Keynes von der Endogenität von Geld wusste. Auch andere brilliante Ökonomen, wie Joseph A. Schumpeter in seinen späten Jahren, erkannten diese Tatsache. Aus immer noch ungeklärten Gründen hat Keynes aber gerade in seinem Hauptwerk die Geldmenge als eine exogene Masse angenommen, von der Zentralbank kontrollierbar. Langfristig gesehen war dies ein fataler Fehler - kurzfristig half es ihm, Anerkennung unter neoklassischen Ökonomen zu erlangen und seine Intuition durchzubringen: mehr öffentliche Güter, mehr Umverteilung.

Freitag, 4. Dezember 2009

Übersetzung aus Prof. Sergio Rossi's: "Macroéconomie Monetaire" (Kapitel 1.1.2.)

Die Frage, wie man "die Masse" Geld definieren und messen soll, war in der ganzen Wirtschaftsgeschichte und in allen Geldtheorien präsent. Wie bereits erwähnt, wurden in der Geschichte verschiedene Objekte gebraucht, um Geld zu repräsentieren: Muscheln, Sand, Steine, Zähne, Pelz, Tierköpfe, Zigaretten, und so weiter. Da es immer schwierig war, und immer noch schwierig ist, die Natur des Geldes zu begreifen, haben Ökonomen untereinander vereinbart, Geld durch seine Funktionen zu definieren. Die funktionelle Definition von Geld wird von Hicks (1967, p. 1), Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1975, gegeben, der sagte: "Geld ist, was als Geld gebraucht wird". Von dort her stammen die drei traditionellen Funktionen des Geldes, das nun als Messeinheit, als Wertaufbewahrungsmittel und als Zahlungsmittel angesehen wird. Weil durch die funktionelle Definition von Geld die Unterscheidung zwischen Zahlungsmittel und liquiden Finanzaktiva erschwert wird, wird die Geldmasse mit einem variablen Massstab gemessen (M0, M1, M2,... Anm. d. Ü.). Wie Bofinger (2001, p.4) berechtigterweise bemerkt, "wenn nicht klar ist, was "Geld" ist, ist es auch nicht möglich zu sagen, was die Funktionen von "Geld" sind". Betrachten wir einige historische Beispiele von Problemen in dieser Hinsicht:


  • Im neunzehnten Jahrhundert waren Ökonomen mit der Frage beschäftigt, ob Sichteinlagen bei einer kommerziellen Bank "Geld" seien, wie dies das Zentralbankgeld bereits in dieser Epoche war.

  • In den 1960er Jahren ging es im die Frage, ob Sparkonti Geld im eigentlichen Sinne seien, auf gleicher Stufe mit den Sichteinlagen bei der Bank.

  • In den 1980er Jahren beschäftigte Ökonomen die Frage, ob gewisse Finanzaktiva von hoher Liquidität "Geld" seien - das Wort "Quasi-Geld" wurde in diesem Zusammenhang benutzt, namentlich für Staatsanleihen oder öffentliche Schuldscheine.

  • In den Anfängen der 2000er Jahre wurde die Frage gestellt, ob die verschiedenen Formen "elektronischen Geldes" Geld im eigentlichen Sinne seien.
Da in der Geldtheorie (noch) keine einheitliche Definition von Geld existiert, wird in der geldpolitischen Praxis eine empirische oder funktionelle Definition von verschiedenen Geldformen gebraucht, basierend auf der Klassifizierung M0, M1, M2, M3, M4. Es existieren in der Tat mehrere Definitionen von Geld, die auf der Basis verschiedener "Liquiditätsgraden" abwechselnd betrachteter monetärer Instrumente beruhen. Allgemein gesagt, sind die dadurch erhaltenen monetären Aggregate die folgenden:

M0 = Monetäre Basis (Notenbankgeldmenge)
M1 = M0 + Sichteinlagen bei kommerziellen Banken
M2 = M1 + Spareinlagen bei kommerziellen Banken
M3 = M2 + Termineinlagen in kommerziellen Banken
M4 = M3 + Einlagen in "Quasi-Banken"

Die Messung der Geldaggregate ist infolgedessen eine variable Geometrie und kann von verschieden grossen konzentrischen Kreisen repräsentiert werden, während M0 der kleinste Kreis darstellt, gefolgt vom Kreis M1, und so weiter (Grafik 1.1).

Die monetären Aggregate reflektieren die finanzielle Situation einer Volkswirtschaft. Da mehrere Definitionen von Geld existieren (M0, M1, M2, M3, M4), ist es wichtig, dass die Nationalbank ein Geldaggregat betrachtet, das sie mit ihren zur Verfügung stehenden Instrumenten beeinflussen und kontrollieren kann (siehe hierzu Kapitel 7 und 8).

Notieren wir bereits jetzt, dass die Nationalbank die monetäre Basis M0 direkt kontrollieren kann, da diese von der Nationalbank selbst emittiert werden kann, während es viel schwieriger von der Nationalbank ist, M1, M2 oder M3 zu kontrollieren, das nicht nur von der monetären Basis abhängt, sondern gleichermassen von anderen Faktoren, namentlich vom Verhalten der Nicht-Banken (es reicht hier, an Transfers zwischen Aggregaten zu denken: zum Beispiel werden Sichtguthaben in Terminguthaben transformiert, oder vice versa, in Differentialfunktionen der Zinsrate, welche die verschiedenen Depots auszahlen). Ausserdem hat die geldpolitische Praxis gezeigt, dass es sogar für die Zentralbank schwierig ist, die monetäre Basis zu kontrollieren und die erwünschte Veränderung der Anzahl Zentralgeldeinheiten genau zu erreichen. Dieser Punkt wird im dritten Kapitel dieses Buches wieder aufgenommen werden.